Das Besondere an Adolescence
Die britische Miniserie Adolescence ist ein hochkonzentriertes Krimidrama, das klassische Thriller-Elemente mit einem formalen Experiment verbindet. Im Mittelpunkt steht der 13-jährige Jamie Miller (Owen Cooper), der von der Polizei festgenommen wird. Der Verdacht: Jamie soll eine Mitschülerin ermordet haben. Von diesem Ausgangspunkt entwickelt sich ein Kammerspiel, das weniger auf Action als auf psychologische Intensität setzt.
Erzählerisch wagt Adolescence ein radikales Konzept: Jede der vier Folgen ist in Echtzeit erzählt und in einer einzigen Einstellung ohne sichtbare Schnitte inszeniert. Dieser Ansatz zwingt die Zuschauer, im gleichen Rhythmus wie die Figuren durch die Handlung zu gehen. Es gibt kein Ausweichen, keine dramaturgischen Zeitsprünge, keine visuelle Erleichterung – stattdessen entsteht das Gefühl, den Figuren in Polizeistationen, Familienhäusern oder Verhörräumen direkt gegenüberzusitzen.
Jede Episode legt dabei einen anderen Fokus. Neben Jamies Blickwinkel stehen insbesondere Detective Inspector Luke Bascombe (Ashley Walters), die Polizeipsychologin Briony Ariston (Erin Doherty) sowie Jamies Eltern im Zentrum. Die Serie erweitert die eigentliche Mordermittlung so zu einer mehrschichtigen Untersuchung: Wie gehen Institutionen mit jugendlichen Verdächtigen um? Welche Rolle spielen Eltern, die zwischen Schutzinstinkt und Zweifel schwanken? Und wie wird ein Jugendlicher im medialen und gesellschaftlichen Kontext schnell zum Symbol, egal ob schuldig oder unschuldig?
Adolescence ist damit nicht nur eine Kriminalgeschichte, sondern auch eine Reflexion über das Erwachsenwerden, über Schuld und Verantwortung, und über ein Justizsystem, das Wahrheit und Gerechtigkeit nicht immer deckungsgleich behandelt. Die Serie zwingt ihr Publikum zur Auseinandersetzung – und das erklärt, warum sie trotz ihrer formalen Strenge zu einer der meistgesehenen Netflix-Produktionen avancierte.